Familie Cyhan – Displaced Persons

Unser ruhiges Dorf hatte stets die Auswirkungen von großen Ereignissen spüren können, das gilt bis heute. In der Vergangenheit waren es Ereignisse wie der Chausseebau unter Napoleon, der Heidebahn, der Erste und der Zweite Weltkrieg mit Kriegsgefangenen, KZ-Zügen und Munitionslagern bis hin zum Kalten Krieg mit unserem Camp Reinsehlen.

Ich möchte hier eine kleine Familiengeschichte aus der Zeit direkt nach dem letzten Krieg erzählen, die ich in den Akten des International Tracing Service (ITS) fand:

Die Geschichte der Familie Cyhan

Foto der Familie Cyhan, 3.2.1.1/79008929, ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Foto der Familie Cyhan, 3.2.1.1/79008929, ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Pawlo Cyhan (auch genannt Paulo, Paul oder früher event. Paweł) wurde am 14.07.1899 im polnischen Uwsie geboren, das heute in der Ukraine bei Tarnopol/Тернопіль liegt. Seine spätere Frau Tekla Cyhan (Geburtsname Salabaj) wurde am 23. oder 29.03.1924 in Kropywna, heute Крапивна, geboren.

Pawlo ging von 1907 bis 1914 zur Grundschule in Lemberg (Lwiw) und erlangte dort 1924 sein Abitur. Anschließend diente er 3 Jahre in der polnischen Armee und wurde dort bis zum Sergeant Major befördert. Nach dem Militärdienst lernte er Koch und schloß 1930 die Lemberger Berufsschule als Meister ab. Er eröffnete im Jahr darauf ein Restaurant mit 20 Beschäftigten in Lemberg und servierte bis zu 400 Mittagsessen täglich.

Mit Kriegsbeginn 1939 wurde Lemburg von den Sowjets besetzt und sein Betrieb verstaatlicht. Er fand anschließend Arbeit in einem Sägewerk und arbeitete dort bei der Möbelherstellung. Im Juni 1944 wurde er von den Deutschen nach Bremen in das Lager Buntentorsteinweg deportiert und musste als Arbeiter vom 6.7.1944 bis zum 28.4.1945 die Trümmer nach den Luftangriffen wegräumen (eine gefährliche Arbeit aufgrund von Blindgängern und Gebäudeeinstürzen). Nach Kriegsende hatte Pawlo kein Zuhause mehr und er wurde von den britischen Besatzungsbehörden erst einmal in Heidenau untergebracht.

Seine spätere Frau Tekla ging nur vier Jahre (von 1931-35) zur Schule. Sie kam im März 1943 nach Deutschland und wurde von 1943-45 in Delmenhorst bei der Norddeutschen Woll- und Kammgarnindustrie als Weberin beschäftigt. Sie eignete sich hier viele Kenntnisse als Textilarbeiterin an, die von der IRO am 12.07.1950 in einem Zertifikat bescheinigt wurden.

Es ist mir unbekannt, wann die beiden zusammen fanden. Es wird aber 1945 gewesen sein, denn schon im Jahr (am 6.8.1946) darauf kam ihre erste gemeinsame Tochter Daria-Julianna Cyhan in Wintermoor zur Welt. Das wird kein romantischer Aufenthalt in unserem Heidedorf gewesen sein, denn in der Nachkriegszeit wurden im Waldkrankenhaus überwiegend schwere Fälle von Tuberkulose (TBC), Lungen- und andere Mangelerkrankungen behandelt. Die Not der Nachkriegszeit war insbesondere für die ehemaligen „Ostarbeiter“ sehr schwer. „Ausländische“ Grabsteine aus den Jahren 1944-48 auf dem Wintermoorer Friedhof sind steinere Zeugen dafür.

Später lebte die Familie im DP-Lager Buchholz-Heidenau (eigentlich bei Tostedt, Abkürzung 29.D.P.A.C.S.). Als „DP“ (für Displaced Persons, siehe Wikipedia) wurden Zivilpersonen bezeichnet, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatstaates aufhielt und ohne Hilfe nicht zurückkehren konnten. Die alliierten Armeen rechneten 1944 mit 11,3 Millionen DPs in Europa! Das Lager war ursprünglich als Flugplatz in den 30er Jahren errichtet worden, weitere Infos und Bilder dazu findet man unter: www.relikte.com/heidenau . Das Lager Heidenau hatte eine Kapazität für bis zu 4.000 Menschen und bestand bis in die Jahre 1956-57. Hier wurden vor allem (polnischstämmige) Ukrainier aus Galizien untergebracht, die aufgrund der politischen Verhältnisse nicht in die Sowjetunion zurückgeführt werden konnten. Die Verschiebung der polnischen Grenze nach Westen ging nämlich einher mit der Verschiebung der sowjetischen Grenze über die Curzon-Linie nach Polen rein.

Für die junge Familie Cyhan bedeutete dies, dass ihr Heimatort plötzlich nicht mehr in Polen, sondern in der sowjetischen Ukraine lag, denn Polen wurde von Stalin quasi einfach nach Westen verschoben. Das machte eine Rückkehr schwierig. Hinzu kam, dass niemand von Pawlos Verwandten mehr dort lebte und er selbst an Asthma erkrankt war.

Hier in Heidenau kam die zweite Tochter Olha-Petronella Cyhan (Olga/Olna) am 19.03.1948 zu Welt und im Jahr darauf am 06.11.1949 als drittes Kind der Sohn Euhen-Pawlo Cyhan (Eugen/Ewhen).

Pawlo war bis 1950 als Barackenleiter in Heidenau für Ordnung und Versorgung in der Baracke zuständig. Er arbeitete nebenbei zwischen 1948 und 1950 etwa 1-2 Tage pro Woche in der Landwirtschaft bei Bauer Johann Detjen in Heidenau 127. Er wurde von der Lagerleitung als guter Koch empfohlen und erhielt am 12.07.1950 auch ein entsprechendes Zertifikat der IRO. Jedoch konnte er in der Heide seine berufliche Leidenschaft nicht ausüben. Die finanzielle Situation der Familie war sehr angespannt. Beide Eheleute wollten arbeiten, jedoch gab es in der Situation kaum Gelegenheit, das eigene Auskommen zu sichern bzw. aufzubessern. Die Situation in der Nachkriegszeit war schon für Einheimische nicht leicht, für Flüchtlinge aber noch viel mehr. Einen kleinen Einblick können einem die Flüchtlinge aus Ostdeutschland im Lager Reinsehlen (dem späteren Camp) aufzeigen, jedoch wird die Situation der DPs noch verzweifelter gewesen sein.

Ihre Spuren in Deutschland verlieren sich nach 1950. Ich vermute, dass die Familie Cyhan über New York in die USA ausgewandert ist. So findet sich im Internet eine Traueranzeige für Telka (nicht Tekla!), die am 28.04.2011 verstarb und mit einem Paulo verheiratet war. Sie wohnte in Quincy sowie Jamica Plain bei Boston (MA). Ihre Tochter Daria Julianna Cyhan ist in einer Einbürgerungsurkunde mit Wohnort in Massachusetts erwähnt. Und weil Kochen zur Familie gehört: in Florida kocht heute noch ein Paul Cyhan, der ebenfalls aus Quincy, Massachusetts stammt und 1990 geboren wurde.

Wer weiß, vielleicht läßt sich die Geschichte ja noch weitererzählen?


Diese Erzählung habe ich anhand der Dokumente aus dem ITS-Archiv und anhand von Internetrecherchen konstruiert. Die Dokumente sind unter dem Suchbegriff „Wintermoor“ im ITS-Archiv zu finden und lassen sich unter diesem Link direkt aufrufen: https://digitalcollections.its-arolsen.org/03020101/name/view/1684302


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