Kommt man aus Schneverdingen raus und will Richtung Hamburg fahren, dann lohnt es sich, am Ortsausgang auf den Höpenparkplatz zu fahren, auszusteigen und einen Blick von den Höhen des Höpen, dort, wo jährlich das Schneverdinger Heideblütenfest gefeiert wird, auf die vor einem liegende Senke, ein großes Stück Land, flach wie eine Flunder, zu werfen. Dort liegt Wintermoor-Geversdorf, Reinsehlen und weiter hinten kurz vor der B 3 Wintermoor an der Chaussee. Es handelt sich vorwiegend um Weiden, Ackerland und um Reinsehlen mit großen Brachlandflächen.
Schaut man rüber über diese Senke, die wie mit der Wasserwaage ausbalanciert zu sein scheint, so sieht man am Horizont die bewaldeten Sanddünen von Ehrhorn, Todtshorn, Nieder- und Oberhaverbek und schließlich den Wilseder Berg – also den Beginn des Naturschutzgebietes Lüneburger Heide.
Dieses zwischen den beiden Hügelketten liegende Land war früher ein einziges Moorgebiet. Stellt man sich vor, man stünde hier einige Generationen früher an einem schönen Sommerabend, so würde man ein völlig anderes Bild sehen. Man sähe kaum bewirtschaftetes Land, sondern bekäme eine einzige weiße Fläche zu sehen, als wenn es mitten im Sommer geschneit hätte. In diesem Feuchtgebiet blühte das Wollgras mit seinen vielen weißen Blüten auf den unendlichen großen „Winterwiesen“ (Wintewischen). Daher stammt auch die Ortsbezeichnung „Wintermoor“.
Von den Sanddünen des Naturschutzgebietes zwischen Haverbek und Todtshorn schlengelt sich ein Wassergraben. Das Wasser läuft runter in die Niederung, quert die B 3 und nimmt aus den Gräben der Winterwiesen links und rechts das Wasser auf.
Erzählen soll meine Geschichte von der Stelle, wo dieser Graben, der hier schon seit jeher den Namen „Wümme“ trägt, die Straße von Schnevern nach Hamburg kreuzt. Im Sommer ist das Flussbett etwa einen Meter breit, im Winter schwillt es auf 1,5 bis 2 m an.
1926 bekam Wilhelm Vorwerk, geb. 1892, zweite Sohn des größten Bauern in Wintermoor-Geversdorf, von seinem älteren Bruder hier ein Stück Ödland, um sich hier ein Haus zu bauen, Land urbar zu machen, sich dort mit seiner Familie niederzulassen. Denn genau an dieser Stelle gab es einen kleinen „Berg“, das Stück Land hob sich hier etwa eineinhalb Meter aus der endlosen Ebene. Dieser Hügel konnte ein Haus tragen. Für das Haus wurden von Wilhelm hier Steine „gebacken“, das Wasser hierzu holte er direkt an der Grundstücksgrenze aus der Wümme.
Nach und nach wurde um das Haus herum Land urbar gemacht. Im Winter aber ging Wilhelm von Hof zu Hof, von Haus zu Haus als Hausschlachter.
Mit seiner Frau Emma hatte er vier Söhne. Wilhelm, Otto, Werner und Hans. Die Jungs spielten gern im Sommer an und in der Wümme, fingen, begleitet vom Froschkonzerten, Stichlinge. Die Frösche und Stichlinge sind hier heute verschwunden.
Im warmen Sommer hatte die Wümme oft nur wenig Wasser. Aber im Winter konnten die zwei großen Betonrohre unter der Straße, sie hatten jeweils einen lichten Durchmesser von einem Meter, das Wasser kaum fassen und es gurgelte und rauschte. Dann sagte Mutter Emma zu ihren Jungs: „Dei Wümm brüllt”.
Kam Wilhelm dann abends in völliger Dunkelheit vom Schlachten nach nach Hause, bekam seine Frau Angst um ihn. Er war etwas nachtblind und könnte den Weg verfehlen und in die Wümme fallen. Dann schickte sie einen der Jungs mit der Petroleumlampe raus in den Schnee an die Straße, um ihm die Richtung zu zeigen. Und irgendwann hörten sie dann das Schlachtergeschirr an seinem Gürtel aufeinander schlagen. „Vader, bist Du dat“. „Ja, ja, ick fin dann Wech schon”, war dann seine Antwort. Wenn er dann ins Haus trat, versammelte sich die Familie um ihn. Er verbreitete einen herrlichen Geruch von frisch geschlachteter Wurst, von Brühe und wenn er dann seine Schürze abband, versteckte sich oft eine Wurst oder ein Stück Bauchfleisch darin.
Zum Herbst hin hatte die Wümme hinter dem Haus damals viele Aale. Um sie zu fangen, stauten Wilhelm und Söhne den Zulauf und weiter unten den Ablauf mit Brettern ab, schöpften das Wasser mit Eimern heraus und holten dann mit Käschern die Aale aus dem Schlick des kleinen Flüsschens. So kam dann oft ein ganzer Eimer voller Aale zusammen und war dann eine willkommene Abwechselung des Speiseplan in Emmas Küche.
Der älteste Sohn Wilhelm stand einmal im Sommer barfuß mit kurzen Hosen vor der Brücke im Wasser. Da kam plötzlich eine richtige große Welle auf ihn zu. Erschrocken sprang er aus dem Wasser. Die Welle entpuppte sich als ein Fischotter, der sich dann in einer der beiden Rohre unter der Straße verbarg.
Wilhelm lief zu seinem Vater und erzählte ihm von seiner Entdeckung. Der schickte ihn zu Gustav Meyer, genannt „Brenner Gustav“. Der sollte mit seinem Gewehr kommen. Damit wollte man dem Fischotter zu Leibe rücken.
Man wartete, bis man sicher war, dass der Fischotter in der Röhre war. Dann schoss Brenner Gustav mit dem Gewehr in das Rohr und der Fischotter wurde aus dem Rohr gespült. Vater Wilhelm schlachtete das Tier, zog ihm das Fell ab und brachte es zum Gerber. Seine Frau Emma bekam davon einen schönen Pelz, den sie im Winter über ihrem Mantel trug und sie wärmte.
Der Enkel Günther, geb. 1936, erzählt gerne, dass er die meiste Schulzeit unter der Wümmebrücke zugebracht hat, weil immer Fliegeralarm war und er dann seinen Schulweg unterbrechen und Schutz suchen musste.
Die Zeit der Aale und Fischottern ist vorbei. Im Sommer ist das Flussbett oft ausgetrocknet. Der Mensch hat sich organisiert, z.B. im Unterhaltungsverband Obere Wümme. Im Vorstand dieses Verbandes ist obiger Enkel Günther Vorwerk, Altbauer auf einem der wenigen noch existierenden Höfe.
Dieser Text stammt von Eckart von Frieling und wurde im Buch “Die Wümme” 2011 veröffentlicht. Der Abdruck erfolgt nach freundlicher Genehmigung von Herrn Stock, Verlag Atelier im Bauernhaus (8. Mai 2017).
Heute bewohnt die Familie Schmalenberg das Anwesen. Sie wissen bestimmt von den Spukgeschichten zu berichten, die der alte Vorwerk über seinen Alkoven zu erzählen wusste.
Hinweis zu Fischereirechten im Artikel zur Fischereigerechtigkeit am Oberlauf der Wümme.